vernünftige Patientenaufklärung?

Begonnen von ex.pectus, 20. Oktober 2013, 12:23:07

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ex.pectus

Zitat von: rabbit am 19. Oktober 2013, 22:37:14
Mich ärgert es sehr, dass man trotz der bekannten Probleme weiter Rippen durchtrennt. Erlangen macht sich diesbezüglich wenigstens Gedanken und schraubt die Titanplatten auf, damit das eben nicht passiert. Falls Patienten über dieses Risiko immer noch nicht vernünftig aufgeklärt werden, wäre das gemein.

Ich weiß nicht,wie man aktuell über die "alte" Erlanger Methode von Prof. Hümmer = MEK vor Ort im Trichterbrustzentrum Regensburg aufgeklärt wird.

Aber auf der Wikipedia-Seite über Prof. Hümmer gibt es einen extra Absatz Arztrecht und Patientenaufklärung. Also wenn das nicht bemerkenswert ist! Er begann 1978 maßgeblich die in D üblichen Patientenaufklärungsbögen mitzuentwicklen. Sie dienen der Dokumentation einer rechtskonformen und zugleich verständlichen Aufklärung vor chirurgischen Eingriffen, haben sich in Haftpflichprozessen bewährt "und [sind] von Gerichten als Beweismittel für die korrekte und umfassende Aufklärung anerkannt"       

Ich finde den Text echt kurios. Auf den ersten Blick werden Verdienste positiv dargestellt. Inhaltlich dürfte die Bewertung aber sehr unterschiedlich ausfallen. Je nach dem, auf welcher Seite man bei potentiellen Haftpflichtprozessen sitzt, ob man Arzt oder geschädigter Patient ist. Als Arzt, also aus ärztlicher/ethischer Sicht, wäre ich auf so einen Verdienst sicher nicht stolz und würde auch nicht damit hausieren gehen. Als Jurist sieht es natürlich anders aus, beruflich gesehen.

Uneingeschränkt positiv wäre es meiner Meinung nach, wenn man sich zum Ziel setzen würde, Patienten tatsächlich wirksam (oder auch "vernünftig") aufzuklären. Egal wie man das genau definieren und woran man das messen will, jedenfalls wäre die Nützlichkeit in Haftpflichtprozessen kein Kriterium für mich.

(Einschränkend sei darauf hingewiesen, dass ich natürlich nicht weiß, wer den Text bei Wikipedia mit welcher Motivation geschrieben hat. Es sieht aber nicht so aus, als ob da jemand auf subtile Weise Prof. Hümmer schaden wollte. Ich weiß auch nicht, ob und in wieweit Prof. Hümmer daran selbst bzw. als Informationsgeber beteiligt ist, was ja ebenfalls nicht ganz unwesentlich für weitere Schlüsse wäre.)

Aber weiter:

Auf der Homepage seiner aktuellen Wirkungsstätte (Trichterbrustzentrum Regensburg) wird dann auch auf die Dokumentierte Patientenaufklärung verwiesen, mit einem Link auf www.proCompliance.de

Auf proCompliance konnte man sich früher dann auch Muster der Standard-Aufklärungsbogen downloaden. Das habe ich 2010 ca. 10 Tage vor meiner OP gemacht. (Aktuell habe ich nur einen Hinweis gesehen, dass man kostenlose Probebögen anfordern kann.)

BTW: Von der Möglichkeit einer OP in meinem Alter habe ich im August 2010 gehört, im September war ich bei 4 Chirurgen (Schaarschmidt, Lützenberg, Leschber, Kostka), im Oktober war die Nuss-OP.

In diesem Aufklärungsbogen aus 2010 heißt es zur Erlanger Methode: "Sie ist bei allen Arten von Trichter- und Kielbrust und in allen Altersgruppen anwendbar. Durch einen kurzen Schnitt über dem Brustbein (5-10 cm) werden die Ansätze der untersten vier bis fünf Rippen freigelegt und eingekerbt, bei Bedarf auch abgetrennt und in korrigierter Stellung durch Nähte wieder zusammen gesetzt. Muskeln oder Narbengewebe, das für Einziehungen verantwortlich ist, werden ggf. eingeschnitten oder durchtrennt. Sodann lässt sich das Brustbein nahezu spannungsfrei durch ein oder zwei dünne und leichte Metallbügel (Edelstahl oder Titan) stabilisieren. Die Metallentfernung erfolgt von einem kleinen Einstich aus routinemäßig nach einem Jahr."

Neben der Erlanger Methode wird auch noch über die Nuss- und Ravitch-Methode u.a. aufgeklärt. Die nachfolgenden Ausführungen zu den Komplikationen und Erfolgsaussichten gelten dann prinzipiell für alle genannten OP-Methoden.

Und zu den Komplikationen heißt es: "Ist mit Komplikationen zu rechnen? Im allgemeinen handelt es sich bei der Brustwandkorrektur um einen Routineeingriff. Trotz größter Sorgfalt können dennoch vereinzelt Komplikationen auftreten, die u.U. weitere Behandlungsmaßnahmen erfordern. Zu nennen sind: ..." Dann werden diese im einzelnen aufgelistet und erläutert, u.a. an letzter Stelle: "Rezidiv: Das Wiederauftreten einer Brustkorbverformung Monate oder Jahre später lässt sich durch keine Methode mit absoluter Sicherheit vermeiden. Fragen Sie bitte, welche Langzeiterfahrungen (über 5-10 Jahre) mit der vorgeschlagenen Methode bestehen."

Und an vorletzter Stelle: "Falschgelenke (Pseudarthrosen): Wenn Knochen oder Knorpel durchtrennt wurden und die Heilung gestört ist, können Defekte und gelenkartige Verbindungen entstehen, die nicht ausreichend stabil sind. Folge können Schmerzen und/oder erneute Verformungen (Rezidiv) sein"

Erfolgsaussichten: "Wie sind die Erfolgsaussichten? In der Mehrzahl der Fälle ist bei geeigneter Operationstechnik, konsequenter Vor- und Nachbehandlung ein dauerhaft gutes Ergebnis zu erwarten. Kleinere Nachoperationen (z.B. Narbenkorrektur) sind bei einzelnen Patienten erforderlich."

Jetzt, wie ich das hier zitiere, stolpere ich über die "Mehrzahl der Fälle". Also über 50%. "Doch, so viel" würde man vielleicht ironisch fragen. Aber dafür ist das Thema zu ernst. Keine Ahnung, was man davon halten soll. Damals vor meiner Nuss-OP ist mir das nicht besonders aufgefallen oder ich kann mich zumindest nicht mehr daran erinnern. In Berlin-Buch gab es dann allerdings sowieso nicht diese Standard-Aufklärungsbogen, sondern wohl eine Eigenentwicklung.

Schon allein die strukturelle Anordnung der Aufklärung würde ich nicht als "vernünftig" sondern als unvernünftig bezeichnen. Wie kann man denn die Tatsache, dass sich die spezifischen Komplikationen je nach OP-Methode teils komplett unterscheiden so im Fließtext verschwinden lassen.

...
Trichter-/Kielbrust Nuss-OP 22.10.2010 (43 J, m, 185 cm, 71,5 kg, Berlin-Buch Prof. Schaarschmidt)
2. OP=Bügelentfernung 20.11.2013 (Magdeburg, Dr. Lützenberg)
meine Trichterbrust-OP-Seite

rabbit

#1
Als Patient kann man sich aus der Aussage "es können Falschgelenke entstehen" nichts ableiten. Mit welcher Häufigkeit tritt diese Komplikation auf? D.h. trotz des Aufklärungsbogen (den auch ich unterschrieben habe) bin ich eigentlich nicht richtig aufgeklärt. Mir wurde damals vom Arzt gesagt, dass das selten auftritt und falls doch, muss man es halt nochmal fixieren. Ich persönlich glaube nicht, dass das selten auftritt. Die Aussage vom Arzt steht aber nicht auf dem Aufklärungsbogen. Somit dient dieser nicht dazu herauszufinden ob die Aufklärung richtig oder falsch war. Es wird i.d.R. ja nicht festgehalten, wie die Auftrittswahrscheinlichkeiten sind. So eine Aussage hängt vom Wissensstand und der Intention des Arztes ab. Und nach meiner Erfahrung, weiß keiner so Recht, wie hoch so eine Komplikationswahrscheinlichkeit ist.
Möchte man so einen Aufklärungsbogen ernsthaft zur Aufklärung des Patienten und nicht zum Schutz des Arztes verwenden, so müsste es zu jeder Komplikation ein ausfüllbares Feld bzgl. der Auftrittswahrscheinlichkeit geben, dass sich entweder aus wissenschaftlichen Publikationen oder aus den eigenen Fallzahlen in der Klinik ergibt. Wieso schreibt man da nicht hinzu, wie oft man als Arzt eine TB operiert hat und wie oft welche Komplikation aufgetreten ist.
Man könnte aber auch das Aufklärungsgespräch aufzeichnen und das Video dem Patienten mitgeben.
Daran hat "das System" aber kein Interesse, da dabei herauskommen würde, dass - meiner Meinung nach - in nahezu jeder Aufklärung Fehler gemacht werden, ob nun aus Unwissenheit, Ignoranz, Zeitdruck, Schlamperei, Absicht, etc.
Am ehrlichsten wäre ein Aufklärungsmitschnitt, zusätzlich zu dem Aufklärungsbogen.
Vermutlich würden dann aber kaum mehr TB-OPs zustande kommen, da der Patient dann einfach Angst hat sich operieren zu lassen. Hand aufs Herz: wer bereits operiert wurde, hat vom Arzt sicherlich im Aufklärungsgespräch viel Zuspruch erhalten und jede Komplikation wurde irgendwie relativiert, so dass man damit halt zurecht kommt und nicht in Angst verfällt.

ex.pectus

#2
Zitat von: rabbit am 20. Oktober 2013, 15:30:31
Als Patient kann man sich aus der Aussage "es können Falschgelenke entstehen" nichts ableiten. Mit welcher Häufigkeit tritt diese Komplikation auf? D.h. trotz des Aufklärungsbogen (den auch ich unterschrieben habe) bin ich eigentlich nicht richtig aufgeklärt. Mir wurde damals vom Arzt gesagt, dass das selten auftritt und falls doch, muss man es halt nochmal fixieren.

nur mal zur Info die Liste der Komplikationen nach Stichpunkten mit den Angaben zur Häufigkeit:

  • Verletzungen der Brustorgane: ... außerordentlich selten ...
  • Nervenverletzungen, anhaltende Nervenschmerzen: ... selten ...
  • Knochenhautentzündung: Sehr selten ...
  • Spitzenabzess, Hau- und Weichteilschäden, Nerven- und Venenreizungen oder Absterben von Gewebe infolge von Einspritzungen: ... in selten Fällen ...
  • stärke Blutungen: ... vereinzelt ...
  • Thrombo-Embolie: ... in seltenen Fällen ...
  • Blut- oder Flüssigkeitergüsse im Rippenfellraum: keine Angabe zur Häufigkeit
  • Pneumothorax: keine Angabe zur Häufigkeit
  • verzögerte Wundheilung, Narben: keine Angabe zur Häufigkeit
  • überschießende Narbenwucherungen: keine Angabe zur Häufigkeit
  • Mediastinitis: Sehr selten ...
  • Unverträglichkeitsreaktionen, Abstoßung von Fremdmaterial: keine Angabe zur Häufigkeit
  • Metall-Allergien: keine Angabe zur Häufigkeit
  • Ausreißen/Abbrechen von eingepflanztem Material: ... seltene Ereignis ...
  • Falschgelenke: keine Angabe zur Häufigkeit
  • Rezidiv: keine Angabe zur Häufigkeit

Man kann bei dieser Kurzzusammenstellung auf einen Blick erkennen, dass nur bei seltenen Häufigkeiten dieser Fakt explizit erwähnt wird. Aber was bedeutet das für die nicht genannten Häufigkeiten? Was meint ihr?

Eine Möglichkeit wäre, dass sich die Komplikationen in den anderen Fällen von den "seltenen" in der Häufigkeit unterscheiden. Es sich dann quasi um "häufigere" Komplikationen handelt.

Eine solche Schlussfolgerung bzw. ein solches Verständnis der "Aufklärung" dürfte sich wohl bei den wenigsten Patienten einstellen. Falls das so gemeint sein sollte, hätte man es besser umsetzen können/müssen.

Wenn es dagegen darum geht, die Nicht-Seltenheit zum Ausdruck zu bringen ohne ausdrücklich von "häufig" zu sprechen, hätte man es wohl nicht besser machen können.

Zitat von: rabbit am 20. Oktober 2013, 15:30:31
Und nach meiner Erfahrung, weiß keiner so Recht, wie hoch so eine Komplikationswahrscheinlichkeit ist.

Das wäre auch eine Möglichkeit, dass der Unterschied nicht in der Komplikationsrate selbst (selten vs. häufig), sondern darin liegt, wie gut die Komplikationsrate untersucht, dokumentiert bzw. bekannt ist. Das macht aber eigentlich auch keinen "vernünftigen" Sinn, dass so zu unterscheiden, ohne darauf hinzuweisen. Und wenn man sich das mal überlegt, führt das letztlich wieder auf die Komplikationsrate selbst zurück: unbekannte (= nicht untersuchte)  Komplikationsraten sind entweder unbedeutend und uninteressant oder eben auch selten.


Apropos "weiß keiner so genau" ...

In dem Aufklärungsbogen findet sich auch folgender Satz: "Der Schmerzmittelbedarf ist bei Erwachsenen in 10% der Fälle höher und länger dauernd als bei Kindern".
Trichter-/Kielbrust Nuss-OP 22.10.2010 (43 J, m, 185 cm, 71,5 kg, Berlin-Buch Prof. Schaarschmidt)
2. OP=Bügelentfernung 20.11.2013 (Magdeburg, Dr. Lützenberg)
meine Trichterbrust-OP-Seite